"Romeo und Julia, was wisst Ihr denn von der Liebe?" (Lucretia, Romeos und Julias Tochter, A.D. 1623)
Verliebtheit erzeugt Sehnsucht, Sehnsucht, den geliebten Menschen häufiger, länger, intensiver bei sich zu haben. Aus Sehnsucht erwächst die Heirat. Die Ehe stillt die Sehnsucht. Die Verliebtheit kühlt ab. Manchmal bleibt die Liebe.
Durch einen Kunstgriff verwehrte William Shakespeare seinen Schöpfungen Romeo und Julia, ihre Sehnsucht durch einen ehelichen Bund zu stillen. Sie gehen für ihre Liebe in den Tod. Ihre Geschichte endet auf dem Höhepunkt ihrer Sehnsucht. So werden sie zum Mythos des idealsten aller Liebespaare.
Was die meisten aber übersehen, schon früh kündigt sich in der Beziehung dieses idealen Liebespaares ein grundlegender Streit an:
Julia: "Willst Du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern. Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die eben jetzt Dein banges Ohr durchdrang...."
Romeo: "Es war die Lerche, die den Morgen kündet und nicht die Nachtigall."
Julia: "Nein, nicht die Lerche war's, die Du gehört"...
Beginnt hier nicht das eigentliche Drama? Was wäre denn geworden, wenn Romeo und Julia eine gemeinsame Zukunft gehabt hätten? Wie hätten sie ihren Alltag gemeistert, wie ihre Kinder erzogen? Was hätte Shakespeare zu all dem gesagt und hätte Shakespeare selbst seiner von ihm geschaffenen Versuchung Julia widerstehen können?